22.11.2023 | Ben Kaden
Quelle: Bodo Stern, Zoé Ancion, Andreas Björke, Ashley Farley, Marte Qvenild, Katharina Rieck, Jeroen Sondervan, Johan Rooryck, Robert Kiley, Maria Karatzia, Nora Papp (2023): Towards Responsible Publishing (1.0). Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.8398480
Das wissenschaftsgeleitete Publizieren bzw. „Scholar-led Publishing“ ist zumindest im Open-Access-Diskurs ein Haupttrend des Jahres 2023. Vor einigen Wochen erschien nun im Kontext der cOAlition S ein Bericht bzw. mehr noch ein Vorschlag unter dem Titel „Towards responsible publishing“ (PDF-Download), der aus einer eher ernüchterten Rückschau auf fünf Jahre Erfahrung mit den Plan-S-Prinzipien eine sehr offensive, eigentlich radikale Perspektive für ein wissenschaftsgeleitetes System der wissenschaftlichen Kommunikation entwirft.
Während, so der Bericht, der Trend in Richtung eines vollständigen und sofortigen Open Access unumkehrbar ist, gibt es erheblichen Nachbesserungsbedarf bei der Gestaltung der konkreten Publikationsmodelle. Dafür werden im Bericht grundsätzliche Orientierungen vorgeschlagen und mit einer laufenden Umfrage (bis zum 29. November 2023) unterlegt.
Die Modelle seien oft, erstens, aus Kostensicht ungerecht, da viele Forschende entweder keinen Zugang zu Publikationen (bei Closed Access) oder zum Publizieren (bei gebührenfinanziertem Open Access) bekämen.
Zweitens führten einer Veröffentlichung vorausgehende Peer-Review-Prozesse zu einer erheblichen Verzögerung der Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen.
Drittens schöpfen Verfahren des anonymen Peer-Reviews (beispielsweise Double-Blind-Peer-Review) große Potenziale der wissenschaftlichen Begutachtung nicht aus, da die Gutachten selbst auch erkenntnistragend unter anderem für die Entwicklung verantwortungsvoller wissenschaftlicher Begutachtungsverfahren sind. Bislang bleiben die Gutachten jedoch unzugänglich und stehen für die Weiterentwicklung der Qualitätssicherung in der Wissenschaft nicht zur Verfügung.
Schließlich wird, viertens, die Betonung der Selektivität von Zeitschriften über Ablehnungs- und Wiedervolagepraxen und damit verbunden ein, bestimmte Karriereanreize setzendes, Gatekeeping bei wissenschaftlichen Zeitschriften als übergroße Belastung von Forschenden insbesondere in frühen Karrierestufen erachtet.
Als Alternative zu den bisher in der Open-Access-Transformation dominierenden und unter anderem über Transformationsverträge wie DEAL verankerten Read-and-Publish-Modellen schlägt das Papier eine stärkere Hinwendung zu Scholar-led-Modellen vor. Dies und die Transformation des aktuell vorherrschenden Peer-Review-Modells soll im Ergebnis zu einem „scholar-led communications ecosystem“ führen.
Dieses wissenschaftsgeleitete System zur Kommunikation von Forschungsergebnissen basiert auf fünf Prinzipien:
Der Vorschlag definiert jeweils für drei Aktivitätsbereiche – a) Forschungsförderung und Wissenschaftsbewertung, b) Publikationskosten, c) Handlungsmacht – drei Stufen (Level) für Maßnahmen.
a) Forschungsförderung und Wissenschaftsbewertung:
b) Publikationskosten:
c) Handlungsmacht:
Der Vorschlag in Richtung eines „verantwortungsvollen Publizierens“ läuft de facto auf eine Publikationsstruktur komplett jenseits der bisherigen Verlagsmodelle hinaus. Ihnen bleibt gegebenenfalls die Rolle von Dienstleistern. Sie verlieren aber ihre Bedeutung für die Steuerung des Aufbaus wissenschaftlicher Reputation und grundsätzlicher Publikationsentscheidungen.
Der Vorschlag ist durch Berücksichtigung unterschiedlicher Formen wissenschaftlichen Outputs ein klarer Schritt Richtung Open Science bzw. Open Research und ein konsequentes Weiterdenken digitaler Potenziale.
Wissenschaftsgeleitet bedeutet, so meine Auslegung, dass alle Handlungs- und Gestaltungsentscheidungen bei den Wissenschaftler*innen bzw. den jeweiligen interessenvertretenden Institutionen liegen. Insbesondere kommerzielle Akteure und Intermediäre werden entweder ausgeschlossen oder auf die Rolle technischer Dienstleister ohne programmatische oder andere Steuerungsmöglichkeiten für die Forschung und Forschungskommunikation reduziert.
Verfahren der Wissenschaftsbewertung und Forschungsevaluation lösen sich von metrischen Standards wie Impact-Faktoren und werden durch qualitative Post-Publication-Begutachtungen ersetzt. Die Gutachten sind wiederum selbst Teil des wissenschaftlichen Outputs.
Beim Reviewing entscheiden die Autor*innen selbst über den Zeitpunkt einer formellen Begutachtung ihrer bereits als Preprint oder Vorpublikation zugänglich gemachten wissenschaftlichen Ergebnisse durch sogenannte „Peer Review Editors“. Die Begutachtungen sollen qualitativ sein. Eine Entscheidung über die „Publikationswürdigkeit“ ist nicht ihre Aufgabe.
Entsprechend begutachtete Publikationen können schließlich von sogenannten „Curation Editors“ nach bestimmten, eher sogar traditionellen Kriterien (thematische Passung, Originalität, inhaltliche Qualität) für die Abbildung in Overlay Journals oder ähnlichen Formaten ausgewählt werden.
Die Innovation des Modells liegt also neben der konsequenten Umstellung auf wissenschaftsgeleitete Steuerung vor allem im Absenken der prinzipiellen Sichtbarkeits- und Teilhabeschwellen, der Formatintegrativität für wissenschaftlichen Output sowie in der Trennung von Begutachtung und Publikationsentscheidung.
Detailfragen drängen sich naturgemäß unmittelbar an nahezu allen Stellen des Berichts auf und müssen im jeweiligen Kontext vertieft werden. Daher hier nur eine Auffälligkeit:
Noch sind entsprechende Konkretisierungsschritte und auch die Akzeptanz für solche Modelle nur punktuell in den Wissenschaftscommunitys gegeben. Eine ausgeprägte Preprint-Kultur existiert für einigen Disziplinen, konnte sich in anderen aber bisher kaum etablieren. Wie sich diese Anforderung mit dem Anspruch der Anerkennung disziplinärer Besonderheiten und epistemischer und damit auch schriftkommunikativer Traditionslinien vereinbaren lässt, muss sich zeigen.
Ähnliches gilt für das angestrebte Auflösen von, wenn man so will, an Verlagsmarken und Zeitschriften gebundene Reputationseffekte. Genau genommen werden die traditionellen Mechanismen des Reputationsaufbaus in der Wissenschaft vollständig verworfen und durch die Selbstorganisationskraft einer sehr idealistisch gedachten Kommunikationskultur ersetzt.
Davon ausgehend scheint die vorgeschlagene Veränderung der wissenschaftlichen Kommunikation sogar fast noch zu begrenzt und eine Erweiterung der Perspektive auf den Umbau aller wissenschaftsstrukturellen Rahmenbedingungen notwendig.