12.05.2022 | Ben Kaden
Openness in Kultureinrichtungen ist das Thema der Stunde. Das gilt nicht nur insgesamt in der Open GLAM-Community, sondern natürlich auch bei Kultureinrichtungen sowohl in Berlin als auch in Brandenburg. Daher nahmen wir als Vernetzungs- und Kompetenzstelle mit Freude Ende April 2022 das Angebot an, Perspektiven auf diesen Komplex im Rahmen eines Digitalworkshops unserer Kolleginnen vom Berliner Open-Access-Büro zu vertiefen. Mittlerweile gibt es einen schönen Bericht zur Veranstaltung: Berlin Open GLAM – Quo Vadis Landesinitiative?
Die genuin Berliner Themen (Stichwort: Landesinitiative Open Research Berlin) wollen wir an dieser Stelle beiseite lassen, auch wenn der Vergleich zwischen den Bundesländern und der Landesinitiativen immer sehr spannend ist. Da jedoch die Gelegenheit bestand, das Thema “Rechtsfragen von Open Access” besonders zu vertiefen, sollen die dort diskutierten Aspekte an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst werden. Denn diese sind naturgemäß auch für die entsprechenden Communities in Brandenburg von Interesse.
Zunächst standen die zentralen Herausforderungen insbesondere zur Wahl angemessener Creative-Commons-Lizenzen für digitalisierte Kulturobjekte im Fokus. Das allein bietet bekanntlich genug Stoff für unendliche rechtsphilosophische und rechtspraktische Erörterungen. Doch überraschend verschob sich das Gespräch in eine Richtung, die man aus bibliotheksbezogenen Open Access-Diskussionen weniger kennt, die für viele Museumssammlungen aber unverzichtbar ist. Gemeint ist eine, wenn man so will, ethische Dimension der Objektdigitalisierung. Neben dem formalisierten Rechtsrahmen wirken nämlich bei überlieferten Kulturgütern oft auch Anforderungen, die weniger formaljuristisch als wissenschaftsethisch zu adressieren wären. Selbst wenn also aus rechtlicher Sicht keine besonderen Einschränkungen vorliegen oder mehr noch, wenn man sich in einem Graubereich bewegt, können für bestimmte Digitalisierungsentscheidungen und -handlungen ethische Normen ähnlich relevant werden wie juristische.
Ein Beispiel sind überlieferte, teils auch sakrale Objekte aus indigenen Herkunftszusammenhängen. Eine angemessene Kontextualisierung erweist sich häufig bereits in analogen Sammlungen und Ausstellungen als eine Herausforderung. Zurecht ist die Dekolonisierung mittlerweile ein Leitbaustein der konzeptionellen Entwicklung vieler Kultureinrichtungen. Die Objektdigitalisierung und mögliche Bereitstellung zur freien Nachnutzung verstärken nun Effekte einer Dekontextualisierung und dies möglicherweise mit dramatischen Folgen.
War das analoge Objekt zumindest räumlich fixiert und damit notwendig kontextualisiert, schaffen eine Bereitstellung und weitreichender Einräumung von Nutzungsrechten, beispielsweise CC-BY, die Möglichkeit, jeden Kontext zu verwischen oder auszublenden und beispielsweise genehmigungsfrei rein kommerzielle, appropriierend oder gar das Ursprungsobjekt entwürdigende Nutzungen vorzunehmen.
Während man für bestimmte Objekte in der Abwägung eine grundsätzliche Gelassenheit gegenüber auch nicht primär willkommenen Nachnutzungen im Namen einer konsequent offenen digitalen Kultur hinnehmen oder gar einfordern kann, gibt es bei anderen Objektkontexten Linien, die aus guten Gründen nicht überschritten werden sollten. Creative Commons-Lizenzen und auch andere Regelungsformen lassen hier bisher leider keine spezifische Differenzierung zu. Das ist ein zentraler und berechtigt kritisierter Nachteil allgemein ausgerichteter Lizenzen. Ein, wenn man so will, Kontextualisierungszwang als Addendum, der die ethischen Anforderungen formalisiert, wäre zumindest theoretisch vorstellbar.
Eine Option wäre eine sorgfältige Dokumentation. So ist als eine digitalisierungsethische Bedingung denkbar, beispielsweise die transparente Abbildung der Provenienzlinien der Objektgeschichte sowie der digitalen Objektifizierungsprozesse als Mindestanforderung festzuschreiben. Eine solche Aufschlüsselung wäre mit dem Digitalisat verknüpft vorzuhalten. Aus dem allgemeinen Forschungsdatenmanagement könnten die obligatorischen Forschungsdatenmanagementpläne als eine entsprechende Inspiration herangezogen werden. Dabei sollten digitale Objektdokumentationen auch Informationen dazu enthalten, auf welcher Grundlage zum Beispiel erschließende Schlagwörter zugeordnet werden oder Ontologien formuliert sind. Die objektspezifische Transparenz müsste also neben den das Objekt beschreibenden Angaben auch Angaben zu den Digitalisierungs-, Erschließungs- und Bereitstellungsinfrastrukturen und -workflows umfassen. Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr Anforderungen kristallisieren sich heraus. Und eines ist deutlich: Eine ethisch und rechtlich sensible Open-Access-Bereitstellung von Kulturobjekten dürfte mitunter sehr komplex werden. Und braucht in den meisten Fällen eine gezielte professionelle Begleitung.
Nicht weniger komplex, aber noch anders gelagert, zeigt sich das Problem der Digitalisierung und des Open Access für Objekte, deren Präsentation mit bestimmten sakralen Konventionen, eventuell sogar mit Tabus verbunden sind. So kommt es durchaus vor, dass Gegenstände in ihrem kulturellen Ursprungszusammenhang nur von bestimmten Seiten gezeigt und betrachtet werden dürfen. Eine komplette 3-D-Digitalisierung wäre zwangsläufig eine Missachtung dieser Tabus und müsste gesondert begründet werden. Damit befände man sich in einer elementaren wissenschaftsethischen Auseinandersetzung über die Grenzen wissenschaftlicher Arbeit und die Frage, inwieweit gerade westliche und post-koloniale Wissenspraxen auf die kulturellen Anforderungen und Besonderheiten der entsprechenden Kulturen Rücksicht nehmen und im Zweifel einen Forschungsverzicht akzeptieren müssen. Die sogenannten CARE Principles for Indigenous Data Governance stellen eine entsprechende Ergänzung zu den FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship. dar. Ob sie in allen Anwendungskontexten wirklich zu Lösungen führen können, bleibt jedoch offen.
Gerade der Blick ins Detail zeigt, dass es meist keine einfachen Antworten und sehr Einzelfallkonstellationen gibt. Die Anerkennung kultureller Spezifität steht genaugenommen grundsätzlich einer Schematisierung und Verallgemeinerung auch von Entscheidungsprinzipien entgegen. Im Zweifel bleibt daher nur die individuelle Bewertung des jeweiligen Kontextes und Objektes sowie eine entsprechende Abschätzung möglicher Folgen einer Bereitstellung. Das ist zugegeben sehr aufwendig und steht dem Wunsch nach einer möglichst schnellen und breiten Sammlungsdigitalisierung naturgemäß entgegen. Dennoch führt aus offensichtlichen Gründen kein Weg daran vorbei.
Bei lebenden Kulturen kann man in Übereinstimmung mit CARE partizipativ und dialogisch Lösungen erarbeiten und kollaborativ in eine epistemische Dekolonisierung eintreten. Bei Kulturen, die nur noch in den Überlieferungen sichtbar werden, stellt sich die Frage ungleich stärker. Dies wird weiter verschärft, wenn ihre heutige Sichtbarkeit teilweise de facto allein durch eine Auseinandersetzungs- und Präsentationspraxis erzeugt werden kann, die konträr zu den kulturellen Regeln und Wertvorstellungen der Ursprungskultur steht. Das Dilemma ist deutlich und die Anforderungen an eine Auseinandersetzungssensibilität sind besonders hoch.
Eine weitere wissenschafts- und digitalisierungsethisch relevante Perspektive eröffnet sich immer dort, wo Dokumente personenbezogene Daten und Kontextualisierungen sichtbar werden lassen. Besonders drastisch ist dies, so ein Beispiel aus der Diskussion, bei nachvollziehbaren Genealogielinien zu heute lebenden Menschen. Durch die Bereitstellung und das Mapping von Korpora eröffnen sich möglicherweise nicht intendierte Zusammenhänge. Die Verknüpfung von Daten und die maschinelle Analyse gibt eventuell mehr preis als die Lektüre der einzelnen Zeugnisse und damit auch mehr, als möglicherweise gut ist.
Aber auch für personenbezogene Überlieferungsspuren, die dem Bauchgefühl nach eher als unkritisch anzusehen wären, stellt sich die Frage, inwieweit Elemente konkreter Biografien ohne ausdrückliche Zustimmung nicht nur abstrakt für ein konkretes Forschungssetting benutzt sondern auch unter entsprechenden freien Lizenzen für eine Nachnutzung bereitgestellt werden sollten. Wer seine Lebensspuren problemlos einer kulturanthropologischen Studie überlässt, mag damit nicht automatisch wohlwollend vorhergesehen haben, dass Jahrzehnte später eine Künstliche Intelligenz auf eben diese trainiert.
Die CARE-Prinzipien sind für solche Fälle mit ihrer speziellen Ausrichtung nur eingeschränkt ein passender Bezugspunkt. Sie eröffnen aber eine wichtige Problematisierung. Open Access muss in den Blick nehmen, wie eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen der Objektdigitalisierung und des freien Zugriffs einen Grundbaustein für jede nachhaltige Open GLAM- und verwandte Strategieentwicklung darstellt. Zugleich offenbart sich der Bedarf für einen stabilen Anlaufpunkt, möglicherweise in Form einer Clearingstelle nicht nur für Rechtsfragen, sondern auch für die ethische Objektdigitalisierung und -verfügbarmachung. Diese müsste GLAM-Einrichtungen also neben juristischer Fachexpertise auch Expertise in den Bereichen Dekolonisierung und Wissenschaftsethik bieten. Parallel entsteht, wie sich aus der Diskussion im Plenum ergab, die Notwendigkeit einer entsprechenden Schulung und Sensibilisierung vorhandener juristischer Zuständigkeiten in den Häusern. Möglicherweise braucht es also zukünftig neben Hausjurist*innen eher früher als später auch hauptberufliche Hausethiker*innen.