30.06.2022 | Ben Kaden

OA-Takeaways 5: Ein Blick zurück ins Jahr 2004.

Gerhard Schneider: Open Access als Prinzip wissenschaftlicher Publikation. Open Access als Prinzip wissenschaftlicher Publikation. Historical Social Research, Vol. 29 — 2004 — No. 1, 114 – 122. https://doi.org/10.12759/hsr.29.2004.1.114-122  

 

Warum Zurückblicken?

 

Will man den Stand von Open Access in der Gegenwart verstehen, hilft es durchaus, hin und wieder mal einen Blick zurück zu werfen. Diese Rückschau ermöglicht ein besseres Verständnis nicht nur der Ursprünge sondern vor allem auch der historischen und gegenwärtigen Perspektiven und Ansprüche an Open Access. Das Denken der unmittelbaren Zeit nach der Berliner Erklärung, also das der mittleren 2000er Jahre, wirkt wie auch die Erklärung selbst durchaus erkennbar nach. Dies vergisst man bisweilen und auch ich brauche hin und wieder eine kleine Erinnerung. Eher zufällig, aber doch sehr willkommen fand sich unlängst ein Aufsatz von Gerhard Schneider, lange Direktor des Rechenzentrum der Universität Freiburg und mittlerweile Emeritus der Professur für Kommunikationssysteme derselben Universität, auf dem Lesetisch. Er stammt aus dem Jahr 2004 und erschien in der vom GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften herausgegebenen Zeitschrift Historical Social Research (HSR) in einem Sonderheft mit dem Schwerpunkt Neue Medien in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Elektronisches Publizieren und Open Access: Stand und Perspektiven. Eventuell werden wir an dieser Stelle später noch Takeaways zu den anderen, nicht minder interessanten Beiträgen der Ausgabe in eine Rückschau nehmen. Unter anderem liefert die Ausgabe Texte von Stevan Harnad, Stefan Gradmann, Klaus Graf oder Andreas Degkwitz, allesamt zentrale Vertreter des Open-Access-Diskurses der 2000er Jahre. Für den Augenblick sollen aber die Kernaussagen aus dem Text von Gerhard Schneider extrahiert werden. 

 

Die Bibliothekskrise

 

Seine Analyse setzt mit der Beschreibung einer so genannten “Bibliothekskrise” ein, ein Ausdruck der mittlerweile kaum noch Verwendung findet und wenn, dann eher im Zusammenhang mit der Kürzung der Mittel für öffentliche Bibliotheken. Als bekannter, gebräuchlicher und zäher sollte sich der Ausdruck “Zeitschriftenkrise” erweisen. Und die Situation der wissenschaftlichen Zeitschriften war bekanntlich auch der Kipppunkt für die Open Access-Bewegung. 

Gerhard Schneider verortet das Initialproblem in der Tatsache, dass die wissenschaftlichen Communities eine Übernahme der Organisation ihrer Kommunikation, also ihres Publizierens, durch kommerzielle Verlage zuließen. Sie seien damit ein Stück weit selbst für die Misere der Preisspiralen verantwortlich. Die Publikation und Dissemination wissenschaftlicher Erkenntnisse als konstituierendes Kernelement des Systems Wissenschaft wurde seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einer eher an Selbstkosten orientierten Produktionsstruktur in eine auf Profit orientierte überführt. Der Markt regelt hier jedoch nicht, da wissenschaftliche Erkenntnis und damit auch ein wissenschaftlicher Aufsatz unikal sind. Forscht man in einem Gebiet, ist man auch gezwungen, die andere dortige Forschung zu rezipieren. Zu den Texten der Peers gibt es keine Alternative. 

Die Verlage verstanden dies und gestalteten die Preise entsprechend entlang der Schmerzpunkte der jeweiligen Bibliotheksbudgets, wohlwissend, dass die Institutionen mit einer eventuellen Kappung des Zugangs zu den Kernzeitschriften ihren Forschenden auch ein zentrales, wenn man so will, Produktionsmittel vorenthalten würden. Dies wiederum würde maßgeblich auf die Qualität von Forschung und Lehre zurückwirken. Gerhard Schneider fasst die Lage so zusammen:

“Es handelt sich […] nicht um einen Abnehmermarkt, sondern um einen Abhängigenmarkt. In einem solchen System kann aber der Lieferant jeden Preis fordern und erhält ihn auch, da es keine Alternativen gibt”.

Schneider, Gerhard: Open Access als Prinzip wissenschaftlicher Publikation. Open Access als Prinzip wissenschaftlicher Publikation. Historical Social Research, Vol. 29 — 2004 — No. 1, 114 – 122. S.116 https://doi.org/10.12759/hsr.29.2004.1.114-122  

 

Elektronische Zeitschriften

 

Aus urheberrechtlicher Sicht bzw. unter den Bedingungen des Copyright Law ändert sich auch bei elektronischen Zeitschriften wenig. Die Verlage lassen sich alle Vervielfältigungs- und Verwertungsrechte übertragen und veröffentlichen im Gegenzug die Aufsätze in den jeweils aus Sicht der Forschenden möglichst prestigereichen Titeln. Die Innovation des Internets lag an einer anderen Stelle: War es für gedruckte Publikationen nahezu ausgeschlossen, nachhaltige alternative Infrastrukturen für Druck und Vertrieb zu betreiben, führte das digitale Publizieren und die Möglichkeit zur Verbreitung über das Internet zur erheblichen Absenkung dieser Hürden. Die Berliner Erklärung und auch Gerhard Schneider schlussfolgerten daraus, dass mit der Obsoleszenz des Papiers auch das traditionelle Publikationssystem an Bedeutung verlieren könnte. Eine andere, weniger marktgeprägte Publikationswelt schien möglich. Die sich seit den 1990er Jahren entwickelnde Preprint-Praxis lieferte Good-Practice-Vorbilder. Sie können aber, wie Gerhard Schneider betonte, Zeitschriften 2004 noch nicht ersetzen, da der Anspruch an das Qualitätssicherungsverfahren des Peer Review von diesen ebenso wenig eingelöst wird wie das Reputationsversprechen der etablierten Titelmarken, mit dem bereits neu gegründete elektronische Titel zu diesem Zeitpunkt noch nicht konkurrieren konnten. 

 

Die Berliner Erklärung

 

Umso bedeutender wird also für Open Access im Sinne der zum Publikationszeitpunkt des Aufsatzes noch sehr neuen Berliner Erklärung argumentiert. Dabei liegt die Stellschraube für Gerhard Schneider nicht darin, die etablierten Verlage zu umgehen. Sondern darin, die Spielregeln zu verändern. Er stellt in diesem Zusammenhang die Inspiration durch freie Softwarelizenzen heraus, ein Bezug, der in der Historiographie des Open Access mitunter ein wenig im Schatten bleibt:

“Ähnlich wie im Bereich der Software die GNU Public Licence eine Alternative zu kommerzieller Software darstellt, kann und muss auch die Wissenschaft ihre Erkenntnisse so veröffentlichen, dass sie ohne Einschränkungen der Allgemeinheit langfristig zur Verfügung stehen und jeder Interessierte die Ergebnisse nutzen kann.”

Schneider, Gerhard: Open Access als Prinzip wissenschaftlicher Publikation. Open Access als Prinzip wissenschaftlicher Publikation. Historical Social Research, Vol. 29 — 2004 — No. 1, 114 – 122. S.121 https://doi.org/10.12759/hsr.29.2004.1.114-122  

 

Für wissenschaftliche Texte wäre diese Lizenzierung naturgemäß in etwas anderer Form zu operationalisieren. Statt der Übertragung eines unbeschränkten Verwertungsrechts an die Verlage sollten diese nur ein zeitlich begrenztes Verwertungsrecht erhalten. Parallel sollten die Publikationen auf einem Archivserver hinterlegt werden, “die Möglichkeit zur Zugriffssperre während der Laufzeit des Verwertungsrechts bietet.” Mit dem Ablauf würden die Publikationen dann zugänglich. 

 

Diese Vorstellung wurde mit dem Zweitveröffentlichungsrecht nach § 38 Absatz 4 des Urheberrechtsgesetztes gut zehn Jahre später, zum 01.01.2014 partiell eingelöst. Zumindest für Publikationen die zu mindestens 50% mit öffentlichen Mitteln finanziert wurden, also de facto sämtliche an staatlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie mit öffentlichen Mitteln geförderten Projektpublikationen, ist eine Open Access-Veröffentlichung nach zwölf Monaten möglich. Dies gilt selbst dann, wenn der Verlagsvertrag dies ausschließt. 

 

Nur teilweise eingelöst wurde dagegen der Workflow, für den Gerhard Schneider nicht unerwartet die Rechenzentren und Repositorien als Open-Access-Archive in einer tragenden Rolle sah. Ein Standardmodus, der automatisch jede dieser Publikationen von Erscheinen an erst für zwölf Monate unzugänglich und danach automatisch offen verfügbar langzeitarchiviert, war vermutlich zu ambitioniert gedacht. Er hätte aber geholfen, vielen Folgeherausforderungen vorzubeugen. Am Sichtbarsten dürfte in diesem Fall sein, dass auch 2022 in den Hochschulbibliotheken Open-Access-Verantwortliche viel Zeit darin investieren müssen, ihre Publizierenden zur Wahrnehmung des Zweitveröffentlichungsrechtes über das Hochschulrepositorium zu motivieren.

 

Es zeigt sich, dass die Erwartungen dieser ersten Jahre nach der Berliner Erklärung zwar in technischer und auch in rechtlicher Art theoretisch erfüllt sind. Praktisch bleibt aber das Desiderat eines Kulturwandels in Richtung einer grundsätzlichen Verankerung von Repositorien auf Augenhöhe mit den Verlagen. Die sicherten sich im Gegenzug nicht nur dadurch ab, dass sie gebührenfinanziertes Open Access zu einem Geschäftsmodell entwickelten, das nicht weniger lukrativ als das der Subskriptionen ist. Indes behielten die Verlage durch ihre eigene Auslegung von Open Access auch die Kontrolle über einen großen Teil der Inhalte. Denn diese werden nicht über öffentliche Repositorien sondern über Verlagsserver und damit auch zu den Bedingungen der Verlage vorgehalten. Open Access im Sinne der Berliner Erklärung ist damit nur zu einem Teil eingelöst. Zwei Aspekte des Open Access jenseits des Abrufzugangs bleiben nach wie vor auch 2022 noch häufig ein Desiderat: einerseits die unbegrenzte Nutzung, Kopie, Weitergabe sowie Be- und Verarbeitung, wie sie sich in der CC-BY-Lizenz abbildet und andererseits die gewünschte Archivierung

 

“in einem Online-Archiv […] (und damit veröffentlicht), das geeignete technische Standards (wie die Open Archive-Regeln) verwendet und das von einer wissenschaftlichen Einrichtung, einer wissenschaftlichen Gesellschaft, einer öffentlichen Institution oder einer anderen etablierten Organisation in dem Bestreben betrieben und gepflegt wird, den offenen Zugang, die uneingeschränkte Verbreitung, die Interoperabilität und die langfristige Archivierung zu ermöglichen.”

Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen. Stand 22. Oktober 2003. https://openaccess.mpg.de/68053/Berliner_Erklaerung_dt_Version_07-2006.pdf