15.11.2022 | Ben Kaden

OA-Takeaways: Diamond-OA am Beispiel der Zeitschrift „Swiss Medical Weekly“

Hin und wieder findet sich für uns ein Lektürefenster, in dem etwas Zeit bleibt, auch quer bzw. interdisziplinär zu lesen. Und entsprechend für den Blick über den Rand unserer Kernaufmerksamkeit und zwar heute in die Schweiz und in die Fachkommunikation der Medizin.

In einem „Viewpoint“ bzw. einer Art Editorial erläutern nämlich Adriano Aguzzia und Gerhard Weber unter der Überschrift „Swiss Medical Weekly: Quo vadis?, warum bzw. wie die von ihnen herausgegebene Zeitschrift “Swiss Medical Weekly” (bis 2000 Schweizerische Medizinische Wochenschrift) im Diamond Open Access erscheint. Nach dem Lesen des Beitrags kann man auf die Quo-Vadis-Frage antworten: Aus Sicht des Open Access durchaus in die richtige Richtung. 

Diamond Open Access 

Interessanterweise trägt die Webseite der Publikation aktuell den Slogan: “Diamond Open Access since 2001”. In der Open-Access-Geschichtsschreibung taucht die Bezeichnung erst später auf. 

Eine frühe Schlüsselpublikation ist der 2013 veröffentlichte Aufsatz von Christian Fuchs und Marisol Sandoval zum „diamond model of open access publishing“. In diesem beschreiben sie Diamond Open Access als eine konzeptionelle Innovation, die den Defiziten des sich schon damals durchsetzenden kommerziellen Gold Open Access entgegenwirken sollte. Sie wollten damit ausdrücklich eine Gemeinwohlperspektive in die Entwicklung zurückbringen:

“It is a form of nonprofit academic publishing that makes academic knowledge a common good, reclaims the common character of the academic system and entails the possibility of fostering job security by creating public service publishing jobs”
(„Es handelt sich um eine Form gemeinnützigen akademischen Publizierens, die akademisches Wissen zu einem Gemeingut macht, den Gemeingutcharakter des akademischen Systems zurückgewinnt und die Möglichkeit bietet, Arbeitsplätze durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in einem gemeinwirtschaftlichen Publikationssystem zu schaffen und zu sichern.“ [meine Übersetzung])

 

Die Arbeitsplatzsicherungsfacette spielt im Viewpoint des “Swiss Medical Weekly” keine Rolle. Aber der Text referiert sehr gut einige aktuelle Aspekte zum Diamond Open Access (bzw. Platinum OA oder, näher an Christian Fuchs und Marisol Sandoval Public Service Open Access), offenbart aber auch zugleich, dass die Zeitschrift zwar ein hochinteressantes und erfolgreiches Beispiel für Diamond Open Access ist, darin aber wahrscheinlich wenig auf die auch im Editorial zitierte Zahl von etwa 29.000 existierenden Diamond-Open-Access-Zeitschriften verallgemeinerbar.

Die Zahl von 29.000 folgt der Angabe im Action Plan for Diamond Open Access (2022), der darüber hinaus verrät, dass in diesen Titeln 45 % aller Open-Access-Aufsätze und 8-9% aller wissenschaftlichen Aufsätze erscheinen. Diesen Angaben liegt wiederum die Analyse der 2021 erschienenen OA Diamond Journals Study zugrunde. Aus dieser lassen sich schließlich weitere Fakten extrahieren, die zur Einordnung des Phänomens relevant sind:

  • nur etwa ein Drittel der geschätzten Diamond-OA-Titel war zum Erhebungszeitpunkt im Directory of Open Access Journal (DOAJ) registriert,
  • die Zahl der im Diamond Open Access erscheinenden Aufsätze ist signifikant geringer als die der in Gold-OA-Titeln erscheinenden,
  • Diamond-OA-Zeitschriften sind eher klein und publizieren weniger als 25 Aufsätze im Jahr, 
  • die Autor*innen stammen auf aus dem jeweiligen nationalen Kontext, die Reichweite ist naturgemäß international,
  • Die meisten Diamond-OA-Zeitschriften sind, wenn man so will, “born diamond”, wurden also direkt als solche begründet. 

Das Diamond-OA-Beispiel Swiss Medical Weekly

Und hier zeigt sich denn auch gleich, warum „Swiss Medical Weekly“ eher aus der Reihe fällt. Mit dem Gründungsvorläufer des Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte aus dem 1870er Jahren ist es ein denkbar traditionsstarker Titel. Zudem glitt es, wie der Viewpoint unterstreicht, sukzessive aus einer etablierten Form über eine aufmerksame und progressive frühzeitige Nutzung digitaler Publikationsmöglichkeiten recht zielstrebig in ein Open-Access-Modell. Die Listung von „Swiss Medical Weekly“ im DOAJ ist einerseits nur eine Fußnote, zeigt aber andererseits auch, dass die Zeitschrift im Gegensatz zu offenbar vielen anderen Titeln die Anforderungen für die Listung erfüllt. Und um die Relevanz eines Verzeichnet-Seins im DOAJ weiß. 

Der nationale Bezug zeigt sich bereits im Namen. Die internationale Reichweite erkennt man, wenn man auf Wissenschaftsmetriken setzt, im h-Index-Score von aktuell 74. Wissenschaftlich-fachliche Akzeptanz und Rezeption sind demnach sehr offensichtlich vorhanden. Legt man das frühe Bekenntnis zu Open Access – PDF-Volltexte wurden am dem Jahr 2000 bereitgestellt – neben die Entwicklung der Zitationen der Zeitschrift, dann wird ein potentieller Effekt einer freien Zugänglichkeit deutlich. Die Zahl der Zitationen pro Aufsatz stieg jedenfalls laut Scimago-Analyse von knapp 0,4 im Jahr 2000 auf fast 2,7 im Jahr 2021. 

Viele, wenn nicht gar die meisten und vor allem neu gegründeten Diamond-Open-Access-Titel werden nicht in die Nähe dieser Werte gelangen. Und möglicherweise schauen sie sowohl interessiert als auch ein wenig neidvoll auf den organisatorischen Rahmen, der laut Viewpoint und Webseite hinter dem Publikationsmodell der „Swiss Medical Weekly“ steht. Aus den 600-800 eingereichten Manuskripten pro Jahr kann sich die Zeitschrift die circa 30 Prozent der Texte aussuchen, die schließlich in die Publikation gehen. Dabei setzt sie konsequent auf Peer Review und verfügt dafür über einen bemerkenswert großen Pool an Reviewenden. Ein solches partizipationswilliges Netzwerk, dessen Wurzeln sicher auch in der Tradition und dem Grundrenommee des Titels und eventuell auch im Fach begründet liegen, ist ein wichtiger Faktor, den erfahrungsgemäß bei weitem nicht alle neu gegründeten Diamond-OA-Zeitschriften mitbringen. Eine strukturelle Unterstützung bei einer vergleichbaren Erwartung an ein rigoroses Peer Review müsste für neue Titel unbedingt auch den erfahrungsgemäß ressourcenaufwendigen Aufbau einer Vernetzungsstruktur berücksichtigen. Die Frage ist, ob und wie sich dies in Anschubförderungen abbildet bzw. abbilden lässt.

Naturgemäß bleibt die Herausforderung bei einem Publikationsmodell, das sich weder über Subskriptionen noch Publikationsgebühren finanziert, der nachhaltige Betrieb einer Zeitschrift, noch zudem einer, die international mit möglichst großer Reichweite und Wirksamkeit sichtbar sein will. Das funktioniert nur über eine fortlaufende externe Finanzierung und ist für die meisten Titel eine Dauerherausforderung.

Vereine werden oft als Lösung ins Spiel gebracht. Auch „Swiss Medical Weekly“ besitzt einen Trägerverein, in dem sich eine Reihe sehr renommierte medizinische Einrichtungen der Schweiz zusammenfinden. Das betont zum einen, wie groß der institutionelle Rückhalt und sicher auch die Bedeutung der Zeitschrift für die medizinische Fachkommunikation sind. Zum anderen dürfte dies nur für wenige Domänen und Zeitschriften reproduzierbar sein.

Abstrakt scheint aber eine Unterlegung eines Titels über ein möglichst breit aufgestelltes institutionelles Commitment als sinnvoller Rahmen. Welche Organisationen in Frage kommen, ist vom inhaltlichen Zuschnitt der Zeitschrift abhängig. Fachverbände, Lehrstühle, Institute und Forschungszentren dürften aber überall in Frage kommen, wobei jeweils noch spezifiziert werden muss, wie das Commitment konkret wirkt. 

Die Menge der in „Swiss Medical Weekly“ nach dem Erscheinungsmodus einer „fortlaufenden Onlinepublikation“ („continuous online publication“) publizierten Beiträge dürfte die Kapazitäten der meisten Diamond-OA-Journals weit überschreiten. Vergleicht man sie mit den Angaben aus der oben zitierten Studie, liegt sie etwa beim Zehnfachen des Durchschnitts pro Titel. Entsprechend lässt sich das Beispiel eher als „inspirational practice“ denn als „best practice“ oder „good practice“ ansehen. Auch wenn sich “Fair access to the best scientific publications, subject to a strict editorial policy, should be possible for all.” als Selbstbild großartig liest, muss solch ein Anspruch erst einmal realisierbar sein. 

Takeaways

Als lose Takeaways lassen sich also für Diamond-Open-Access-Zeitschriften aus diesem Beispiel mitnehmen:

  • Man kann mit dem entsprechenden Rahmen und Renommee Diamond Open Access auf einem zu anderen Publikationsmodellen mindestens gleichwertigem Niveau und mit hoher Reichweite publizieren,
  • Eingeführte Traditionstitel haben möglicherweise Vorteile. Eine Umwandlung bestehender Titel könnte daher vielversprechend sein. 
  • Für ein Peer Review muss ein Netzwerk aufgebaut und gepflegt werden. 
  • Eine Absicherung über eine Rahmenstruktur, z. B. einen Trägerverein, sorgt für eine organisationale Stabilität. 
  • Ein Commitment und möglichst auch eine aktive Einbindung von Institutionen, beispielsweise über einen Verein, hilft, den Betrieb einer solchen Zeitschrift nachhaltig zu sichern. 
  • So wie wir generell von Bibliodiversität sprechen, wird es auch bei Diamond Open Access je nach Setting, Anspruch und Möglichkeiten eine Vielzahl von Lösungen geben müssen. 
Quellen:

Aguzzia, Adriano, Weber, Gerhard: Swiss Medical Weekly: Quo vadis? In: Swiss Medical Weekly, 2022; 152:40030. doi: 10.57187/smw.2022.40030

Ancion, Zoé, Borrell-Damián, Lidia, Mounier, Pierre, Rooryck, Johan, & Saenen, Bregt: Action Plan for Diamond Open Access [2022]. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.6282403

Bosman, Jeroen, Frantsvåg, Jan Erik, Kramer, Bianca, Langlais, Pierre-Carl, & Proudman, Vanessa. [2021]. OA Diamond Journals Study. Part 1: Findings. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.4558704

Fuchs, Christian; Sandoval, Marisol: The diamond model of open access publishing: Why policy makers, scholars, universities, libraries, labour unions and the publishing world need to take non-commercial, non-profit open access serious. In: TripleC: Communication, Capitalism & Critique, 11(2), S. 428-443. https://openaccess.city.ac.uk/id/eprint/3078/