16.11.2022 | Ben Kaden
Der Bezugspunkt seiner Arbeit ist die Darstellung von Gewalt in der französischen Literatur des 21. Jahrhunderts, wobei er das Thema mit der kurzen Analyse eines Films, nämlich Ladj Lys Les Misérables (2019) eröffnet, der mit seinem Titel wiederum unübersehbar eine literatur- und gesellschaftsgeschichtliche Linie zurück ins 19. Jahrhundert zieht. Auch die Lebenswelt in den Banlieues der 2010er Jahre bewegt sich unvermeidlich vor einer historischen Folie:
„Durch die […] intertextuellen Bezüge auf den Romantiker Victor Hugo und letztlich den Aufklärer Voltaire evozierte der Regisseur dabei eine lange Kontinuität sozialer Probleme seit der ‹klassischen› französischen Moderne, quer durch die Konsolidierung der Republik im 19. Jahrhundert und die Epoche kolonialer Ausbeutung. Es handelt sich um eine Referenz auf Vergangenes und geschichtliche Zusammenhänge, welche viele der in dieser Studie verhandelten Texte zum Thema Gewalt in Frankreich in ihren unterschiedlichen Formen und Spielarten prägt.“ (S. 8)
Das analysierte literarische Material umfasst zahlreiche bekannte Leittexte der französischen Gegenwartsliteratur, von Pierre Lemaitres Au revoir là-haut (2013, deutsch: Wir sehen uns dort oben, 2014) über Édouard Louis‘ autobiografischem Roman Histoire de la violence (2016, deutsch: Im Herzen der Gewalt, 2017) bis zur Vernon Subutex-Triologie (2015–2017, deutsch: Das Leben des Vernon Subutex, 2017 und 2018) der in den 1990er Jahren mit dem Film Baise-moi bekannt gewordenen Regisseurin und Autorin Virginie Despentes.
Dem Charakter einer Habilitationsschrift folgend, sind die Analysen der Texte von der benannten Leitfrage geprägt und werden im epistemologischen Rahmen der Literatur-, Erkenntnis- und Kulturtheorie verhandelt. Der Blick ins Buch lohnt sich aber auch für Nicht-Romanist*innen, denn die Perspektive auf das „literarische Wissen“ als „Lebenswissen und «dissidenter Wissensspeicher» mit durchaus konkreten Ansprüchen“ (S.552) dürfte aus der Perspektive jeder Literatur von Bedeutung sein.
Dies gilt ebenso für das differenzierte Durchdringen des Themas selbst, den „Zustand der Krise im Alltagsmodus, wie er sich durch geschichtliche Zusammenhänge verankert hat, durch den globalen Wettbewerb verstärkt wurde und durch Rassismus, Phallogozentrismus, Xenophobie und soziale Exklusionsmechanismen zur Eskalation gebracht wird“ (S. 563), der sich aus den behandelten Büchern als Darstellung und Kennzeichnung der Conditio der gesellschaftlichen Gegenwart identifizieren lässt. Literatur ist unzweifelhaft und ihre Analyse potentiell ebenfalls politisch.
Arbeit und Analyse sind also denkbar zeitgemäß. In seinem durchaus auch selbst als Auftakt eines erzählerischen Textes vorstellbaren ersten Satzes des Vorworts deutet der Autor dies mehr als an:
„Als ich im Jahr 2019 mit dem Verfassen der vorliegenden Studie begann, ließ sich noch nicht erahnen, welche Herausforderungen im weltweiten Maßstab die kommenden Jahre bereithielten.“ (S. IX)
Dies betrifft schließlich auch die gegenwärtigen Formen der Speicherung dieser Wahrnehmungen als „Lebenswissen“, die über die Form des Romans und der buchgebundenen Literatur in neue narrative Formen fließt:
„Vom Blog bis zum Youtube-Kanal, vom Computerspiel bis zur Netflix-Serie bleiben der Repräsentationsspielraum und damit der Interpretationsspielraum von erzählter Gewalt potentiell unbegrenzt.“ (S. 564)
Damit stellen sich methodologische und gegenstandstheoretische Fragestellungen für literaturwissenschaftliche Forschung. Wir freuen uns sehr, dass mit dem Publikationsfonds für Open-Access-Monografien eine derart gegenwartsrelevante Forschung aus dem Land Brandenburg weit sichtbar gemacht werden konnte.