26.01.2022 | Ben Kaden
Am 21.01.2022 verabschiedete der Wissenschaftsrat unter dem Titel “Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access” (PDF-Download) eine aktuelle Positionierung zur Open-Access-Transformation. Klar ist: Open Access ist im Kommen, wenngleich noch nicht überall gleich durchschlagend. Die Erwartung ist aber eine umfassende Durchsetzung von Open Access als Publikationsform und -norm..
Ein Hauptmerkmal der Open-Access-Transformation betrifft die Geschäftsmodelle für die formale Aufbereitung, Qualitätssicherung und Verbreitung wissenschaftlicher Publikationen. Kurz gefasst bedeutet die Verschiebung: Finanziert wird nicht mehr die Rezeption über den Einkauf von wissenschaftlicher Literatur, sondern die Produktions-, Verbreitungs- und Vorhalteschritte der wissenschaftlichen Literatur.. Man nennt es auch: pay-to-publish.
Mit den Empfehlungen möchte der Wissenschaftsrat einerseits genauer fassen, was unter der “unmittelbaren und dauerhafte öffentlichen Zugänglichkeit von wissenschaftlichen Publikationen” zu verstehen ist. (S. 5) Andererseits geht es ihm um die Bestimmung der für die Open-Access-Transformation notwendigen institutionellen und finanziellen Rahmenbedingungen.
Benannte Zielgruppen des Papiers sind de facto alle wissenschaftsseitigen Stakeholder*innen von Open Access: Wissenschaftler*innen, wissenschaftliche Einrichtungen, Wissenschaftsmanagement, Bibliotheken, Forschungsförderung. Wissenschaftsverlage und – dienstleister sowie die Wissenschaftspolitik werden dagegen nicht benannt.
Das Papier zielt laut Vorbemerkung darauf ab, “dazu beizutragen, dass diese Transformation zügig voranschreitet und dabei die Leistungsfähigkeit des Publikationssystems für Wissenschaft und Gesellschaft gesteigert wird.” (S.5) Es liefert dafür eine umfassende Überblicksdarstellung zu Open Access, die stellenweise fast den Charakter eines Handbuchs annimmt.
Aufgrund seiner zentralen Stellung als Beratungsgremium für die Wissenschaftspolitik in Deutschland, ist die Publikation potentiell weichenstellend. In jedem Fall hat sie einen nachhaltigen Orientierungscharakter für kommende Auseinandersetzungen mit Open Access und der Open-Access-Transformation.
Nachfolgend wollen wir daher für unsere Open-Access-Takeaways und damit auch für eine weiterführende Diskussion in der Open-Access-Community einige Aspekte herausheben. Dabei beziehen wir uns zumeist auf die in der Kurzfassung beschriebenen Grundlinien, verweisen für Detailfragen aber unbedingt auf eine Konsultation der Langfassung, die die Schlussfolgerungen der Kurzfassung ausführlich herzuleiten versucht. Eine tiefere Diskussion der auf mehr als 100 Seiten ausgeführten Perspektiven würde allerdings den Rahmen dieses ohnehin schon langen Blogposts sprengen. Die Langfassung wird daher an dieser Stelle nur punktuell referenziert.
Zugleich wird betont: “Für den Erfolg der Transformation ist entscheidend, für welche Publikationswege sich Forschende entscheiden.” (S.35) Inwieweit dies auch die Option beinhaltet, dass sie sich gegen Open Access entscheiden, bleibt unklar. Die als Lösung benannte Informationsvermittlung und Dialogmaßnahmen zur Verankerung von Open Access in den Communities könnte ein Weg sein, der freilich ebenfalls bereits seit der Berliner Erklärung in diversen Varianten und Iterationen beschrieben wird.
In der Langfassung werden zusätzlich wesentliche Teiltransformationen” (S.34) der Open-Access-Transformation differenziert:
Dies soll an dieser Stelle herausgehoben werden, weil im klassischen Blick der Wissenschaftssoziologie der individuell erwartete Reputationsgewinn der Schlüsselpunkt der Akzeptanz einer Publikationsplattform, zum Beispiel einer Zeitschrift, ist. Die Bindung von Reputation an beispielsweise den Journal Impact Factor steht nicht nur aus der Open-Access-Perspektive unter einem Transformationsdruck. Unbestreitbar ist jedoch, dass ein Publikationsformat nur dann von Publizierenden genutzt wird, wenn es die entsprechenden Erwartungen an wissenschaftliche Reputationseffekte erfüllt.
Die Open-Access-Transformation wird über drei weitgehend seit der Berliner Erklärung bekannten Argumente als erstrebenswert begründet:
Zu allen Argumenten gibt es ebenfalls bekannte Einwände, die hier nicht elaboriert werden können, aber zur Ergänzung zumindest kurz benannt werden sollen:.
Für Open-Access-Publikationen sieht der Wissenschaftsrat folgende mehr oder weniger formale Eigenschaften als leitend:
In den Empfehlungen wird zugleich betont, dass es aufgrund unterschiedlicher Publikationskonventionen keine Einheitslösung für Open Access geben wird und das Ziel der Transformation daher in einer “Vielfalt der wissenschaftlichen Publikationstypen und -medien” liegt. (S.8)
Druckausgaben werden als zusätzliche Ausgabevarianten allerdings nur für ein wissenschaftsexternes Publikum als Option bewertet. (S.9) In der Langfassung des Dokuments wird jedoch ebenfalls darauf hingewiesen, dass “in manchen Feldern und für bestimmte Kommunikationszwecke […] analoge Publikationsformen auch künftig mit digitalen Formen koexistieren [werden].” (S. 39)
Auf die Entwicklung von Enhanced Publications und die Rolle von Metadaten und Retrievalanforderungen (S.43) wird diversen Stellen in den Empfehlungen auch in Verbindung mit den FAIR-Prinzipien hingewiesen. (ebd.) Allerdings sind die damit zusammenhängenden Grundlagen noch derart unklar, dass man versteht, warum “mittelfristig” als Perspektive angegeben wird, wenn es heißt: “Die Registrierung und Auswertung von Nutzungsspuren muss zum Nutzen der Wissenschaft, klar und rechtskonform geregelt werden.” (S. 43)
Die Finanzierung von Open-Access-Publikationen wird in der Verantwortung der wissenschaftlichen Einrichtungen verortet. (S.9) Diese sind gehalten “sicherzustellen, dass alle Forschenden über ausreichende Mittel verfügen, um ihre Ergebnisse adäquat und qualitätsgesichert veröffentlichen zu können.” (S.9)
Publikationskosten sollen über die Forschungsfinanzierung aufgebracht werden können bzw. sollen Drittmittelgeber Publikationskosten vollständig übernehmen. Programm- und Projektpauschalen sollen den Kostenaufwand berücksichtigen. (ebd.) Auf Hochschulebene und in Bezug auf die Grundfinanzierung sieht der Wissenschaftsrat die Hochschulleitungen in der Verantwortung für Neuregelungen. (S.9f.) Die Umstellung soll “möglichst kostenneutral” ausfallen. (ebd.) Zur Sicherstellung werden Konsortiallösungen angeraten. (ebd.) Auf Hochschulebene ist eine Bilanzierung der antizipiert sinkenden Erwerbskosten für Literatur mit den steigenden Ausgaben für Publikationskosten vorzunehmen. Das Schlagwort heißt hier: Informationsbudgets (S.10)
Nach dem ersten Eindruck sind die Empfehlungen ein wichtiger Überblick zum Stand und der Wahrnehmung von Open Access in Deutschland im Jahr 2022. Auch zeigen sie eine konkrete wissenschaftsstrategische Position auf, mit der freilich nicht alle mit Open Access befassten Personen vollständig übereinstimmen werden. Gerade denjenigen, die sich von Open Access eine grundsätzliche, häufig auch weniger von kommerziellen Faktoren gesteuerte Reorganisation oder gar Revolution der wissenschaftlichen Kommunikation erhoffen, werden die Empfehlungen zu zahm, möglicherweise sogar kontraproduktiv erscheinen.
Dass sich weiterhin Bruchstellen zwischen der formulierten Programmatik und Erfahrungen der Umsetzungs- bzw. wenn man so will, Durchsetzungspraxis von Open Access zeigen, konnte erwartet werden. Es mag an der Natur des Dokuments liegen, dass diese Diskrepanzen der Perspektiven nicht gewürdigt werden. Zugleich liegt darin ein Knackpunkt des Geltungsanspruchs und der Akzeptanz der Empfehlungen.
Für im Feld aktive Personen ergibt sich nach der ersten Durchsicht inhaltlich wenig greifbar Neues. Für andere Zielgruppen, insbesondere Publizierende, dürften sich andere Konfliktpunkte herausstellen. Die Übersetzbarkeit der Empfehlungen in konkrete Maßnahmen bleibt eine generelle Herausforderung. Die Prämisse, dass Open Access als Transformationsprozess in wenigen Jahren abgeschlossen sein wird, wirkt daher, vorsichtig formuliert, optimistisch. Angesichts der Komplexität und Agilität wissenschaftlicher Kommunikationsstrukturen und sich den parallel vollziehenden Innovationszyklen digitaler Kommunikationstechnologien dürfte eine solche Festlegung eines Publikationsmodells nicht nur wenig wahrscheinlich sondern auch nicht zweckmäßig sein. Der Regelungs- und Steuerungswunsch seitens der Wissenschaftsplanung ist nachvollziehbar, steht aber immer in Spannung zur Umsetzbarkeit in der Wissenschaftspraxis.
Das Hauptproblem der Open-Access-Transformation liegt bekanntlich im Verhältnis von Transformationsansprüchen, Steuerungsmöglichkeiten und den Anforderungen, Wünschen und Priorisierungen unterschiedlicher Stakeholder*innen. Dazu kommen ökonomische Spannungen, die auch im sehr umfangreichen Empfehlungspapier möglicherweise etwas zu oberflächlich verhandelt werden.
Die Kurzfassung des Dokuments, auf die sich viele Akteur*innen beziehen werden, liest sich zudem deutlich deterministischer als die Erfahrungen der vergangenen mehr als 20 Jahre Open Access nahelegen. Wenn eine Sache seit Verabschiedung der Berliner Erklärung zu lernen war, dann, dass der Interessenausgleich im Bereich Open Access eine sehr diffizile Herausforderung darstellt, da man auf den verschiedenen Ebenen ganz unterschiedliche Interessen und Priorisierungen vorfindet. Die Eruption um den Heidelberger Appell im Jahr 2009 war nicht nur ein erstaunliches Schauspiel der Diskurseskalation, sondern auch ein Verweis auf nahezu diametral gerichtete Vorstellungen dessen, was im Prozess des Wissenschaft wie zu gewichten ist. Fachkulturen, Publikationskulturen, Rezeptionskulturen stehen auf der einen Seite, Budgetgrenzen, Verständnishorizonte, Kompetenzen und Idealvorstellungen auf der anderen. Die Open-Access-Transformation ist umfassende und notwendigerweise inklusive Programmarbeit, die bereits aufgrund der Wissenschaftsfreiheit behutsamer aufgestellt und geduldiger durchgeführt werden muss, als manchen lieb ist.
Das Empfehlungspapier ist ein Baustein dieser fortlaufenden kollaborativen Transformationsleistung, die technische Möglichkeiten mit rechtlichen Anforderungen, ökonomischen Grenzen und wissenschaftskulturellen Traditionslinien versöhnen muss. Die Empfehlungen bilden erwartungsgemäß nur eine spezifische Sichtweise auf die Open-Access-Transformation ab. Zugleich erheben sie jedoch den Anspruch auf Verbindlichkeit. Damit verengen sie mögliche Spielräume bei der Gestaltung von Open Access. Dies zeigt sich aus Sicht der Open-Access-Praxis, wie ausgeführt, unter anderem an der Festlegung auf Gold-OA als Standard zuungunsten der Potentiale und Akzeptanz, die der grüne Weg (Green-OA) nachweislich bietet und besitzt.
Es mag der Zweck eines solchen Papiers sein, eine klare Entwicklungs- und Handlungsbahn der Open-Access-Transformation festzulegen. Ist man jedoch täglich im Feld der Open-Access-Praxis unterwegs, wird man an vielen Stellen skeptisch bleiben müssen. Entsprechend begrüßenswert wäre es, wenn der Wissenschaftsrat ein Dialogformat zum Brückenschlag zwischen den offenbar sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen auch jenseits des Pressegesprächs vom 24.01. (Youtube) anbieten würde. Die Diskussion wird so oder so weitergehen – sicher auch in einem unserer nächsten Open-Access-Smalltalks.